Naturreligionen heute

Dieser Text über Naturreligionen met einem Akzent auf Asatru kommt aus mein Buch „Germanischer Götterglaube“, wurde, in 2013 etwas angepasst um ein auf sich stehender Artikel davon zu machen.
Wenn von Religion die Rede ist, denken viele Menschen noch immer zuerst an die sogenannten Weltreligionen Christentum, Islam und Buddhismus, die jahrhundertelang die Kultur vieler Länder beherrschten. Sie repräsentieren jedoch nur eine Gruppe, die sogenannten Offenbarungsreligionen. Asatru und viele andere neuheidnische Religionen gehören zu den in der Menschheitsgeschichte viel älteren Naturreligionen. Trotz dieser Einteilung haben jedoch alle Religionen mehr miteinander gemein, als viele Anhänger einer bestimmten Richtung wahrhaben möchten. Ein skizzenhafter Vergleich soll dies deutlich machen.
Merkmale von Offenbarungsreligionen sind:
- Sie sind fast immer monotheistisch
- Es wird davon ausgegangen, dass Gott nicht erschafft und schweigt, sondern sich zu bestimmten Zeiten bestimmten Personen (Propheten) ‚offenbart‘ hat. Der Inhalt dieser Offenbarungen umfasst religiöse und gesellschaftspolitische Handlungsanweisungen, die zu befolgen sind.
- Inhalt und Basis der vermittelten Information sind nicht über den Weg der empirischen Erkenntnis zugänglich, sondern gehören in den Bereich des dem Menschen Unverfügbaren und Unableitbaren.
- Neue Offenbarungen finden immer dann statt, wenn sich die Anhänger der jeweiligen Religion in einer Umbruch- oder Krisensituation befinden. Sie dienen in diesem Moment der gesellschaftlichen Stabilisierung.
- Sozial- und gesundheitspolitische Regelungen werden gleichfalls als Offenbarungen ausgegeben, weil sie damit ohne weitere Begründung Rechtsstatus erlangen können. Institutionen wie Kirchen oder Moscheen werden als Wirkung der Offenbarung(en)
gesehen. - Aus der Offenbarung leitet sich ein absoluter Wahrheitsanspruch ab.
Naturreligionen sind gekennzeichnet durch:
- Ihren Polytheismus, der zwei Ausprägungen haben kann:
– Jeder Gott und jede Göttin ist ein eigenständiges, selbständiges Wesen mit eigenem Herrschafts- bzw. Zuständigkeitsbereich(en) und der spezifischen Macht, in diesen Bereichen auch entsprechend handeln zu können.
– Weibliches und männliches Prinzip werden durch eigene Gottheiten verkörpert.
Hier ist die Eigenständigkeit und Individualität einer Gottheit oft unklar, manchmal
handelt es sich sogar nur um die Personifizierung des jeweiligen Prinzips und dann wird der Polytheismus eigentlich fraglich, umso mehr, wenn dabei von einem universellen Schöpfungsprinzip ausgegangen wird. - Die Anerkennung von Naturkräften als ursprünglich, elementar und alles durchdringend, was belebt und unbelebt ist.
- Das Fehlen von Interpreten, die aufgrund ihrer Sicht religiöse und gesellschaftspolitische Handlungsweisen vorschreiben. Es gibt keine Mittler zwischen Göttern und Menschen. Es gibt keine authentische Religionsurkunde, keinen Gründer und keine fixierten Lehren.
- Direkte Kommunikationen jedes Menschen mit den von ihm verehrten Göttern auf individuelle Art; religiöse Gruppenfeiern ändern das nicht. Jemand, der sich dennoch aufspielt als ‚Religionsführer‘, ‚Heidenpapst‘ oder ähnliches, hat diesen Grundsatz einfach nicht verstanden.
(Das gilt auch für selbsternannte Worführer einer bestimmten Religion, denn diese könnte es nur geben, wenn darüber ein Konsens innerhalb dieser Religion bestünde. Bis heute hat es so einen Konsens für Asatru nicht gegeben.) - Die Sicht, dass Götter nicht außerhalb der Schöpfung stehen. Sie sind Teil davon und agieren in Wechselwirkung mit den Menschen.
- Vernetztes Denken im Gegensatz zum linearen und zielorientiertem Denken. Nicht einfache Kausalität, sondern die Verknüpfung aller Dinge wird beachtet.
- Die Definition der Seele als denjenigen Teil des Menschen, der den Körper auch manchmal verlassen kann. Zu denken ist dabei z. B. an Traum- und Trancereisen (Seelenreisen). Sie ist also nicht eine Art höheres ätherisches Wesen, das als Gegensatz zum physischen Körper angesehen wird.
Den Übergang des Geistes beim Sterben in die Gestalt eines körperlosen Wesens und dessen Weiterleben in einem anderen ‚Reich‘. Manche Naturreligionen kennen auch den Glauben an eine Form der Wiedergeburt, bei anderen Naturreligionen ‚reist‘ der Geist endgültig in eine andere Wirklichkeitsebene. Beide Auffassungen kommen sogar innerhalb Asatru vor. Eine ähnliche Sichtweise zu Ersteres gibt es aber auch in Offenbarungsreligionen
Wer anhand dieser Kriterien feststellen möchte, in welche der beiden Gruppen eine Naturreligion eingeteilt werden sollte, der wird entdecken, dass nicht immer alle Kriterien erfüllt werden. So gibt es z. B. offensichtliche Naturreligionen, die jedoch nicht wirklich polytheistisch sind. Hier würde eine andere Art von Einteilung greifen.
Naturreligionen werden manchmal auch Erfahrungsreligionen genannt, wobei mit ‚Erfahrung‘ eine besondere Art des Glaubens gemeint ist, die sich von dem heutigen meist verbreiteten Glaubensverständnis in den westlichen Industrienationen grundsätzlich unterscheidet. Ein paar Beispiele mögen dies verdeutlichen:
Statt der Frage „Glaubst du an Sturmgötter?“ müsste es heißen: „Bist du bereit, den Sturm als Ausdruck einer oder mehrerer Gottheiten anzuerkennen?“
Die Frage „Hast du schon einmal einen Waldgott gesehen?“ ist ebenso falsch, denn es muss heißen: „Hast du je im Wald ein Erlebnis gehabt, das dich davon überzeugte, dass ein Waldgott sich dir auf besondere Weise gezeigt hat?“.
Und statt zu fragen, ob es wirklich Meeresgötter gibt, sollte man mit sich zu Rate gehen, ob man Erfahrungen bzw. Erlebnisse hatte, die sich sinnvoll als Erscheinungen eines Meeresgottes verstehen lassen.
Es mag jetzt auch deutlich werden, dass die Elemente an sich und Naturerscheinungen keine Gottheiten sind, sie sind Medien, in denen Gottheiten sich zeigen und mit uns kommunizieren, so wie das auch in Träumen oder beim Eintreten bestimmter erwünschter Ereignisse der Fall sein kann.
Ein weiteres Merkmal einer Naturreligion ist der selbstverständliche Versuch aus der Religion heraus naturnah und in Harmonie mit der Natur zu leben.
In der heutigen Zeit mag es vordergründig unnatürlich anmuten, einer Naturreligion anzuhängen, denn in Mittel- und Westeuropa – ebenso wie in anderen westlichen Industrieländern – ist der Abstand zwischen Mensch und Natur groß. Besonders in den Städten scheinen viele Menschen von der Natur so abgeschnitten zu leben, dass unnatürliche Verhaltensweisen oft gar nicht als solche wahrgenommen werden. Wer zu Jul Erdbeeren essen möchte, der entzieht sich den Zyklen der Natur in der eigenen Gegend, die bewirken, dass es nur in einer bestimmten Jahreszeit Erdbeeren gibt.
Aber selbst wer in der Mitte einer Großstadt lebt, hat viele praktische Möglichkeiten zu einer naturnahen Lebensweise, nicht nur bei der Wahl des den Jahreszeiten angepassten Essens – auch die Art und Weise, wie die Nahrungsmittel gezüchtet sind, kann ein wichtiges Kriterium beim Kauf sein. Darüber hinaus gibt es durchaus mehr Möglichkeiten sich in vielen Bereichen naturnah zu verhalten, wie z. B. keine Produkte zu kaufen, die durch brutale Ausbeutung der Natur entstanden sind, sich zu engagieren für die Erhaltung bedrohter Arten und durch entsprechendes Verhalten zu einer gesunden Umwelt beizutragen. Dazu gehört auch, dass man sich vielseitig über Natur und Umwelt informiert, denn solche Kenntnisse sind in den meisten Fällen notwendig um ein passendes Verhalten zu entwickeln.
Die Denkart ‚sich die Natur untertan zu machen‘ passt nicht zur Naturreligion, denn sie impliziert den Versuch sich die Götter untertan zu machen! Und die Götter lassen nicht mit sich spotten. Menschen stehen nicht über der Natur, sie sind daher auch nicht deren Hüter, sie sind Teil der Natur, einer Natur, die zu respektieren und zu schützen ist, so wie man sich selber und sein eigenes Haus schützen möchte. In unserer westlichen Gesellschaft ist es häufig ein heikler Balanceakt, naturreligiöses und gesellschaftspolitisches Handeln auf einen Nenner zu bringen. Sehr oft gelingt das denn auch nicht und dann kann man nur den bestmöglichen Kompromiss anstreben: Soll der Flughafen ausgebaut werden? Soll eine Umgehungsstraße um die Kleinstadt angelegt werden? Was soll mit dem Atommüll getan werden?
Auch hier gilt es wieder, sich entsprechend zu informieren und sich über die Folgen seines Handelns bzw. die Abgabe seiner Stimme wenigstens bewusst zu sein.