Eine Göttin Holle Sage

Obwohl das Zuhause der Frau Holle ursprünglich im Nordosten Hessens und den angrenzenden Teilen Thüringens lag, war sie schon früh weit über diese Region hinaus bekannt und aktiv. Die folgende Geschichte spielt sich am Schellenberg ab, einem großen Hügel in Mittelfranken, eine Region im Bundesland Bayern. Auf dem Schellenberg stand ein Schloss, und im Schlosshof wuchs ein mächtiger Lindenbaum. Dieser Baum war so alt wie die Burg selbst, und man sagte, solange er stand und grün war, würde auch das Schloss bestehen bleiben. Doch wenn er verdorrte, würde auch die Burg verfallen, und ihre Bewohner müssten ebenfalls zugrunde gehen.
Der Schlossherr hatte zwei Söhne. Der jüngere hatte sich als Kind das Bein gebrochen, hinkte seitdem und wurde deshalb der krumme Jakob genannt. Als der Vater starb, übergab er dem ältesten Sohn als Erstgeborenem das Schloss sowie eine große Kiste mit Geld. „Behalte den Jakob zeitlebens bei dir“, mahnte der Vater, „und sei gut zu ihm, wie man es einem Bruder gegenüber sein sollte.“ Das versprach der ältere Bruder auch. Doch nachdem er nach dem Tod des Vaters die Burg übernommen hatte, begann er sofort, seinen Bruder schlecht zu behandeln. Jakob durfte nicht mehr mit ihm am selben Tisch essen und konnte nicht mehr im Schloss wohnen, sondern musste im Stall bei den Pferden schlafen und aus der Hundeschüssel essen. Eine Zeit lang ertrug Jakob dies, doch dann forderte er sein Erbteil und wollte fort, um in der Fremde sein Glück zu suchen.
Allein der Schlossherr gab ihm nichts, er schlug ihn sogar und ließ ihn zum Schloss hinauswerfen. Traurig geht der Jakob weiter, durch den dichten Wald bergauf und bergab und kommt bis Abend ins Tal, wo jetzt die Kartause steht. Er setzt sich unter einen Baum, legt den Kopf in die Hände und weint bitterlich. Als er wieder aufstehen will, sitzt gegenüber auf einem Stein eine alte Frau, die spinnt Garn und nickt, wie sie das Rad tritt, in einem fort dazu mit dem Kopfe. Das war die Frau Holle. Und sie fragte, weshalb er so traurig sei. Er antwortete: „Ihr könnt mir doch nicht helfen!“ und will weiter. „Du bist der krumme Jakob aus dem Schloss“, sagte sie, „und ich kann und werde dir helfen, wenn du mir Vertrauen schenkst.“ Da ging dem Jakob das Herz auf, und er klagte der Frau Holle sein Leid. Die Alte aber sprach: „Komm mit mir, Jakob, nach drei Jahren wollen wir wieder zu deinem Bruder gehen, vielleicht besinnt er sich bis dahin und gibt dir dein Eigentum heraus.“ Sie nahm ihn also mit in ihr Häuschen, da musste er ihren Rosmarinstock gießen, ihre Katze füttern und ihr Flachsfeld bebauen. Im Winter musste er Pfahlstecken schneiden für die Weinbauern und Schiffstangen für die Mainschiffer, und im Frühjahr trug er sie ins Maintal zum Verkaufe. Die Frau Holle nahm ihren Spinnrocken in die Hand wie einen Gehstock und ihre Kötze auf den Rücken und packte ihr Garn hinein, um es auch zu verkaufen, und ging mit ihm. Wurde Jakob wegen seines steifen Beines die Last zu schwer, nahm sie ihm die Alte ab und legte das Holz mit ihren dürren Armen oben auf die Kötze, als wenn es Stroh wäre. Jakob hatte es gut bei der Frau Holle. Sie lehrte ihn auch die Bauernarbeit, so dass er sich zuletzt besser darauf verstand als ein geborener Bauer. Nach drei Jahren sagte die Alte: „Jetzt wollen wir zu deinem Bruder gehen!“ und sie nahm ihren Spinnrocken zur Hand, und der Jakob ging mit. Als sie zum Schlosse kamen, saß der Bruder im Hof unter der Linde; denn es war sehr schwül, und die Linde blühte und gab einen weiten kühlen Schatten, und die Vögel sangen in ihren Zweigen. Der Burgherr fragt nach ihrem Begehr, und die Frau Holle nimmt das Wort für den krummen Jakob und sagt, sein Bruder sei da und wolle, was ihm gehöre. Der Schlossherr entgegnet, wenn sie nicht sogleich wieder gingen, wolle er ihr den alten wackeligen Kopf herunterreißen und dem Krummen das andere Bein auch noch entzweischlagen. Da wurde die Alte zornig, ergriff ihren Spinnrocken und stieß ihn in die Linde. Und als dieses geschehen war, flogen die Vögel auf, und der Baum fing an zu zittern von der Wurzel bis zum Gipfel, und aus dem Stamm und den Ästen floss der Saft und tropfte auf den Boden, und die Blätter wurden gelb und fielen ab, und die Frau Holle sagte: „Oh, du Bösewicht, dir muss es ergehen wie dem Lindenbaum. Und du sollst verdorren und verschmachten und eines elenden Todes sterben.“ – Dann ging sie mit Jakob fort.
Es geschah so, wie die Frau Holle gesagt hatte. Als der Lindenbaum abgestorben war, hielt auch das Schloss nicht mehr. Bei jedem heftigen Sturm fiel eine Mauer oder ein Turm ein, und der Regen schwemmte die Steine hinweg, so dass man‘s nicht mehr aufbauen konnte. Kein Mensch mochte mehr im Schlosse bleiben, und der Schlossherr hauste allein im Keller. Dort stand die Geldkiste, und von der wollte er sich nicht trennen, sondern hütete sie Tag und Nacht. Wie zuletzt nichts mehr vom Schlosse übrig war als nur der Keller und der verdorrte Lindenbaum, der vorm Keller stand, kam in einer Novembernacht ein großer Sturm und warf die morsche Linde auch um. Sie fiel gerade vor die Kellertüre und versperrte den Ausgang. Der Schlossherr konnte die Türe nicht mehr öffnen, wenn er auch noch so sehr dagegen anrannte, und er musste auf seiner Geldkiste elend verhungern.
Die Frau Holle wusste das alles gar wohl, und einen Tag nach seinem Tode kam sie hin, hob den Lindenbaum hinweg, öffnete die Kiste und legte das Geld auf zwei gleiche Teile. Den einen ließ sie liegen, den anderen nahm sie mit. Und als sie aus dem Keller heraus war, stürzte der auch zusammen. Daheim gab sie dem Jakob das Geld und sagte: „Jetzt hat jeder das Seine – er und du! – wie‘s der Vater befohlen hat. Nimm, was dein ist, aber den Edelmann schlag dir aus dem Sinn und werde ein Bauer. So kannst du noch Glück haben. Leb wohl, mich wirst du jetzt nicht mehr sehen!“ Da nahm der Jakob Abschied und baute von dem Gelde sich einen großen Bauernhof auf dem Hundsrück bei Altenbuch, nahm eine Frau und viele Knechte und Mägde und wurde ein großer Bauer. Keine Seuche kam in seinen Stall, kein Ungeziefer an seine Obstbäume und kein Hagelschlag über seine Felder. Wenn in der Erntezeit das Gesinde alle Hände voll zu tun hatte, geschah es oft, dass in der Frühe die Feldarbeit schon getan war, dass die Garben alle geschnitten und gebunden und auf Haufen gestellt waren, so dass man sie nur aufzuladen und heimzufahren brauchte. Die Leute machten große Augen, aber der Jakob wusste wohl, wer‘s getan hatte. Als ihm sein erster Sohn geboren wurde und er‘s den Nachbarn mitteilte, meinte er in seiner Freude, er müsse es doch auch der Frau Holle sagen, und machte sich zu ihr auf den Weg. Allein er suchte sie vergeblich und fand weder das Häuschen noch das Tal, wo es gestanden, und nachdem er den ganzen Tag im Walde umhergeirrt war, befand er sich abends mit einem Male wieder vor seinem Bauernhof. Die gute Frau Holle bekam er nie mehr zu Gesicht, und er starb im gesegneten Alter von neunzig Jahren.
Sein Hof besteht noch heute.
Nacherzählt aus dem Buch „Göttin Holle“, von Gunivortus Goos, Norderstedt, 2019, S. 101-103.