Rorik oder Rurik, von H. W. Koekkoek (1867-1929) Illustration aus dem Buch „Teutonic Myth and Legend“, von Donald A. MacKenzie, 1912

Ein Thing in Friesland

Gunivortus Goos

10. April 2025Copyright © Gunivortus Goos

Nacherzählt aus dem niederländischen Roman „Rurik van Trajectum“ von Herman Baars (1909–2004), Seiten 90 bis Mitte 94.

Bevor die Geschichte beginnt, mögen zunächst einige Hintergrundinformationen für ein besseres Verständnis beitragen…

Zu dem Titel…

Ein Thing im Mittelalter war zuerst eine Volksversammlung wo auch juristische Sachen abgehandelt wurden, spater betraf es nur Gerichtsverhandlungen. Sehr viel mehr darüber gibt es im Buch (link) darüber.

In der zweiten Hälfte des achten und der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts war Ludwig der Fromme (778–840), Sohn Karls des Großen, König von Aquitanien, König der Franken und als Ludwig I. ab 813 gemeinsam mit seinem Vater, Karl dem Großen, Herrscher des Heiligen Römischen Reiches. Als einziger überlebender erwachsener Sohn Karls des Großen und seiner Frau Hildegard wurde er nach dem Tod seines Vaters im Jahr 814 alleiniger Herrscher der Franken, ein Amt, das er (bis auf eine kurze Zeit) bis zu seinem Tod inne hatte. Seine zweite Frau war Judith von Bayern (805–843).

Rorik, auch Rurik, Roerik von Dorestad oder Hrørek (ca. 820–zwischen 873 und 882) war ein dänischer Wikinger aus Jütland, der zwischen 841 und 873 als Herzog oder Graf über einen Teil von Friesland, der Grafschaft Westfriesland, herrschte. Er schwor dazu Ludwig dem Frommen die Treue und diente ebenso seinem Sohn Lothar I sowie dessen Sohn Lothar II.
Ruriks älterer Bruder Harald trat zunächst in Ludwigs Dienste, ebenso wie sein Cousin Henning. Beide wurden mit der Verantwortung für die Küstengebiete im Norden des Reiches betraut. Rurik folgte diesem Beispiel und wurde anfänglich von Harald geführt.
Rurik, Harald und Henning waren eng mit dem dänischen König Harald Klak verwandt. Obwohl einige ältere Quellen der Meinung sind, dass Rurik und Harald Christen waren, ist heute weit verbreitet die Auffassung, dass sie dem alten heidnischen Glauben anhingen.

Über die meisten genannten Personen gibt es noch viele weitere Informationen, aber das oben Gesagte reicht hier als Einführung aus. In dem oben genannten historischen Roman ist dieser Rorik oder Rurik der Protagonist. Darin lernt er Kaiser Ludwig und Kaiserin Judith persönlich kennen und wird ihr Berater für den Norden des Reiches.

Im Text unten wird der Begriff „solidi“ erwähnt. Ein Solidus, im Plural solidi, war ursprünglich eine römische Goldmünze, die bis ins 10. Jahrhundert verwendet wurde. Das Wort „Soldat“ leitet sich vom Solidus ab, da die Soldaten mit dieser Münze bezahlt wurden; diese Bezahlung wird als Sold bezeichnet.

Noch kurz zum Begriff ‚Gau‘, der ebenfalls genannt wird:
Nachdem Karl der Große die Sachsen unterworfen hatte, wurden Grafen eingesetzt, und der Gaugraf übernahm die Verantwortung für die Rechtsprechung innerhalb der Gau. Eine Gau war eine Verwaltungseinheit im Frankenreich, die seit Karl dem Großen teilweise auch als Grafschaft bezeichnet wurde. Oft waren diese Begriffe jedoch nicht identisch, da eine große Gau mehrere Grafschaften umfassen konnte, während eine Grafschaft manchmal Teile mehrerer Gaue beinhaltete.

Die jetzt folgende Erzählung handelt von dem noch jungen Rurik, der von seinem Bruder, Graf Harald, in das Amt des Herrschers in Friesland vorbereitet wird.


 

Boten wurden ausgesandt, um das erste Thing in ganz Friesland zu verkünden. Als der Tag des Things dann endlich gekommen war, hatten sich neben den vielen obligatorischen freien Familienoberhäuptern aus der Gegend auch Delegierte aus der ganzen Grafschaft eingefunden, nämlich die Hundertmänner, Anführer von meistens größere Verwandtschaftsgruppen. Sie standen in einem großen Kreis um die Freifläche mit dem Thingbaum, die weiter von den bereits kahl werdenden Baumkronen umsäumt wurde. Hinter Harald standen seine Leibwächter: diejenigen, die noch nicht weggeschickt worden waren, und die Neuankömmlinge, die auf diese Weise Gesichter studieren konnten, um sich zu erinnern. Überrascht tuschelten viele der Anwesenden miteinander über die unerwartete Anwesenheit des rothaarigen Bruders des Grafen, der neben Harald und dem Hofdiener stand. Harald fing an den Anwesenden zu zu sprechen: „Mit dem Beginn meiner Tätigkeit in diesem Gau, die mit dieser öffentlichen Sitzung ihren Anfang nimmt, hat für die nördlichen Niederlande eine neue Ära begonnen.
Wir haben in Riustringen barmherzige Veränderungen für die Menschen eingeführt. Meine Männer können das bestätigen.“ Harald drehte sich halb zu seiner alten Garde um, die dann mit einem Kopfnicken bestätigte.
„Auch für Friesland brechen von nun an bessere Zeiten an. Unter dem hohen Schutz unserer kaiserlichen Majestät hoffe ich, mit eurer aller Mithilfe das aufzuholen, was in der Vergangenheit versäumt wurde, und Ungerechtigkeiten zu beseitigen.
In unserem Land wird niemand hungern müssen und niemand wird ohne Grund bestraft werden. Die Gerechtigkeit muss fortbestehen, aber unnötiges Leid muss vermieden werden. Unser Justizsystem wird einen neuen Ansatz haben. Angeklagte können, wenn sie es wünschen, von einem Anwalt unterstützt werden, der genau weiß, wo die Grenze zwischen Recht und Unrecht liegt.
Zu den Straftaten, die härter bestraft werden, als man es vielleicht gewohnt ist, gehören alle Formen der Steuerhinterziehung. Diese müssen mit äußerster Ernsthaftigkeit behandelt werden, denn was die einen für sich behalten, müssen die anderen bezahlen. Wir werden eine neue Methode der Steuererhebung anwenden. Wir werden nicht mehr zu euch kommen. Ihr müsst das selbst mit dem Steuerbeamten Eirik von Vendsyssel regeln, einem erfahrenen Mann, der sein Handwerk versteht. Wenn ihr innerhalb von vierzehn Tagen kommt, werden wir ohne Strafe, ohne Groll und ohne alte Schulden beginnen.
In diesem neuen Zeitalter spüren wir einen neuen Sinn für Patriotismus; wir sind nicht mehr nur Friesen, Dänen, Deutsche, Franken oder Italiener, sondern gemeinsam Bewohner und Verteidiger Westeuropas unter unserem Kaiser.“
Bei diesem Satz ging ein Raunen durch die Reihen der Anwesenden.
Harald wartete einen Moment, dann sprach er weiter:
„Unser Europa ist von verschiedenen Seiten bedroht; erst vor einem Jahr haben die Sarazenen Sizilien erobert, einen wichtigen Zugang zu Italien. Heere der Mauren stehen vor der Südgrenze des spanischen Aquitaniens, während die Normannen hier in unsere Gebiete eindringen und plündern, wo sie können. In Erin haben sie die Burg Eurer Gräfin zerstört.
Die vom Kaiser unterhaltenen Armeen sind ausschließlich auf die Verteidigung des Reiches ausgerichtet; wir sind nicht auf Eroberung aus. Unsere Verteidigungsanlagen weisen jedoch Schwachstellen auf.
Ich weise zum Beispiel auf die Notwendigkeit der Küstenverteidigung und -überwachung hin. Eine tapfere Schiffsflotte soll das Wattenmeer vor drohender Gefahr schützen; sie soll den friesischen Fischern ermöglichen, ihren Beruf sicher auszuüben. Wir werden sie auch dabei unterstützen, ihre Fänge richtig zu konservieren und frisch zu halten, damit auch sie als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft die von allen erwarteten Steuern zahlen können.
Streng, aber gerecht ist unser Motto. Ich fordere euch auf, gegenüber Sklaven und unfreien Mitmenschen wohlwollend zu sein. Sucht nicht nach jeder kleinen Unregelmäßigkeit – lasst die Vergangenheit ruhen. Lasst uns gemeinsam auf eine bessere Zukunft für uns und unsere Kinder zuarbeiten; denn das ist der Weg, den euch Kaiser Ludwig, in dessen Namen wir sprechen, in seiner Güte und Weisheit empfiehlt.
Beim Treffen den notwendigen Entscheidungen“, hier sprach Harald lauter, als wolle er sogar von den Abwesenden gehört werden: „Die von der Kirche verursachten Missstände werden auch unsere ausdrückliche Aufmerksamkeit erhalten“ (bei den überraschten lauten Antworten musste er einen Moment innehalten, dann sprach er weiter); „wir werden außerdem unser Bestes tun, um dieses Land, das reich an schiffbaren Flüssen und Kanälen ist, mit besseren Verbindungen, sowohl nach innen als auch nach außen, und einer starken, kampfkräftigen Handelsflotte zu versehen.

Doch lasst uns zunächst einige kleinere juristische Angelegenheiten regeln, die mein geschätzter Vorgänger in diesem Amt hinterlassen hat; ich habe bereits die meisten der Verhafteten ohne weiteres freigelassen und bitte nun um Aufmerksamkeit für zwei verbleibende Angelegenheiten.“
Daraufhin wurde eine angeklagte Frau vor das Thing gebracht. Durch die monatelange Haft hatte sie viel von ihrem sauberen Äußeren eingebüßt, aber ihr stolzes Auftreten war unversehrt, was Harald Respekt vor ihr einflößte. Er übersprang die Fragen nach ihrem Namen und ihrem Wohnort und fragte direkt: „Ihr seid des Inzests mit einem Onkel beschuldigt. Bestätigt ihr diese Anschuldigung? Die Frau senkte für einen Moment den Kopf.
Darauf sagte er: „Vielleicht möchte unser Verteidiger vor der Urteilsverkündung etwas in dieser Richtung sagen oder die Frau befragen, was ihre Schuld klären oder sie entlasten kann?“
Rurik stand auf und wandte sich an die Frau:
„In der Anklageschrift steht, dass ihr zu eurem Onkel gezogen seid. Was ist mit Onkel gemeint? Ist er der Bruder eures Vaters?“ „Nein.“
„Dann vielleicht ein Bruder eurer Mutter?“
„Weder noch. Er ist der Witwer der Schwester meiner Mutter.“
„Er ist also nicht von Geburt an mit euch verwandt?“
Der Hofbeamte machte Anstalten, sich einzumischen, aber Harald wies ihn mit einer Geste an, es zu lassen.
„Nein, er ist in Finnland geboren“, antwortete die Frau. „Er wollte mich bei sich haben, weil ich der Schwester meiner Mutter, seiner ersten Frau, so ähnlich sehe.“
„Herr Graf“, wandte sich Rurik dann an den Grafen, „wenn es keine Blutsverwandtschaft zwischen den Lebensgefährten gibt, kann es auch keine Blutschande geben. Vielleicht sogar überhaupt keine Schande, da keiner der beiden mit jemand anderem verheiratet ist. Diese Beziehung hat eine respektable Grundlage; ich denke, dass daraus eine Ehe entstehen kann, die auf die übliche Weise vollzogen werden soll. Es ist bedauerlich, dass hier nur die Frau zur Rechenschaft gezogen wird und nicht auch der Mann. Es ist zwar verständlich, dass er aus Angst vor der Todesstrafe geflohen ist. Aber Angst ist ein schlechter Begleiter. Wir leben nicht mehr in jenen dunklen Jahren, in denen Angst zurecht ein täglicher, unerwünschter Zustand war. Angst lässt die Menschen vor denen fliehen, die sie lieben; Angst lässt schwedische Männer dänische Kinder entführen, um sie auszuliefern, wenn von ihnen verlangt wird, Egir oder Wodan bei ihrem neunjährigen Opferfest ein Kind zu opfern.“
Rurik brauchte einen Moment, um seine Emotionen zu zügeln, und fuhr dann fort: „Die Angst veranlasste Pilatus, das Urteil zur Kreuzigung Christi zu bestätigen. Ihr aber, freie Friesen, dürft niemals auf die Stimme der Angst hören. Diese Frau muss sofort freigelassen werden, und auch die Verfolgung ihres Liebhabers muss aufgehoben werden.“
Die Anwesenden äußerten sich dazu mit leisen, zustimmenden Ausdrücken bei sich selbst.
Graf Harald sagte nur: „Im Namen Gottes und unseres verehrten Kaisers Ludwig wird der Angeklagte von der Anklage freigesprochen und darf dieses Thing frei verlassen!“ Der Hundertmann von Hoogebeintum, ein hochgewachsener Mann mit einem wilden, schon etwas ergrauten Bart, der einst blond war, rief mit seiner durchdringenden Bassstimme seine Zustimmung, woraufhin von allen Seiten lauter Beifall ausbrach.

Im zweiten und letzten Punkt ging es um einen Vorwurf der Majestätsbeleidigung. Ein geschwätziger Barbier-Chirurg hatte beim Rasieren ehrwürdiger Männer unanständige Dinge über Kaiser Ludwig gesagt. Der Angeklagte hatte dabei seine eigenen Probleme, da viele ihn für den frühen Tod eines Verwandten verantwortlich machten.
„Sind die Zeugen hier, die die Äußerungen gehört haben?“, fragte Graf Harald.
Daraufhin traten drei ältere Männer vor.
„Würdet ihr bei allem, was euch heilig ist, schwören, dass ihr die Wahrheit sagen werdet?“
„Wir schwören!“, ertönte es aus drei Mündern.
Der Landvogt, unterstützt vom Hundertmann von Hoogebeintum, trat an die Zeugen heran und legte zweien von ihnen die Hände auf die Ohren, so dass sie nichts mehr hören konnten.
Harald fragte: „Dann will ich jetzt den ersten Zeugen fragen: Welche Worte hast du dazu von dem Angeklagten gehört?“
Der Zeuge antwortete: „Er sagte: ‚Ludwig kann nicht einmal eine Waffe schwingen, weil er mit der einen Hand seine Zähne und mit der anderen seine Frau festhalten muss, sonst laufen beide weg.‘“ Daraufhin ging ein Raunen durch die Zuschauer.
„Hatte der Angeklagte vielleicht zu viel getrunken?“
„Er war bei der Arbeit und damit beschäftigt Romke zu rasieren, Herr Graf.“
„Dann scheint Trunkenheit unwahrscheinlich“, sagte Harald.
Lasset nun den zweiten Zeugen sprechen. Der Gerichtsbeamte nahm seine Hände von den Ohren des zweiten Zeugen und bedeckte dann die Ohren des ersten Zeugen.
Der Graf fragte dann: „An was erinnert ihr euch, was der Angeklagte gesagt hat?“
„Ludwig kann einen Mann nicht einmal schlagen, denn dann würde er seine Zähne und seine Frau nicht mehr festhalten, und das würde er nicht wagen“, war die Antwort.
„Ich danke euch. Ihr könnt euch zurückziehen.“
Der dritte Zeuge kam an die Reihe. Der Hundertmann nahm daraufhin seine Hände von den Ohren des dritten Zeugen und hielt sie dem zweiten Zeugen zu.
„Zeuge drei, habt ihr den Angeklagten, den Barbier, Worte sprechen hören, die als Beleidigung der kaiserlichen Familie angesehen werden können?“
„Ja, Herr Graf. Ich hörte ihn sagen: ‚Ludwig kann niemals mit seiner Armee gegen die seiner Söhne reiten, denn er muss seine Zähne mit seinen Händen halten und seine Beine halten seine Frau fest.‘“
Dies löste unter den Umstehenden ein fröhliches Gelächter aus, was die beiden anderen Zeugen mit großem Erstaunen erfüllte.
Daraufhin fragte der Graf den Barbier: „Angeklagter, gibst du zu, dass du Worte dieser Meinung über unseren verehrten Monarchen gesagt hast?“
„In der Tat, Herr Graf – der Spott muss mich für einen kurzen Moment überwältigt haben, doch ich habe mich nur so ausgedrückt, um die Menschen zu amüsieren, wie es in meinem Beruf üblich ist. Ich bitte Euch um Gnade. Ich werde der Kirche hundert Solidi geben, damit dort Messen für die Seele des Kaisers und Ihre unsterbliche Seele gelesen werden. Ich bitte um Milde, Herr Richter, als Narr war ich kurz auf dem falschen Weg.“
„Der dritte Zeuge kann sich zurückziehen“, sagte Harald, „ich übergebe nun das Wort an Rurik, den heutigen Verteidiger.“
Rurik begann zu sprechen, und alle hörten aufmerksam zu, auch die drei Zeugen, die nun frei waren, den Rest der Verhandlung zu hören:
„Meiner Meinung nach, Herr Graf, ist unser Kaiser zu erhaben, um sich von einem Schurken wie diesem Mann beleidigen zu lassen. Aber es geht jetzt nicht um meine persönliche Meinung. Der Maßstab muss sein, was das Gesetz in dieser Sache sagt.
Aber selbst wenn man das einbezieht, glaube ich nicht, dass die Verspottung des Kaisers so ernst gemeint war; es war ein gepfefferter Kommentar zu einem kürzlich veröffentlichten Bericht und keine absichtliche Beleidigung. Solche Bemerkungen werden oft über ältere Männer gemacht, die eine jüngere Frau haben – und unser verehrter Kaiser ist tatsächlich alt. Dennoch handelt es sich um einen unangemessenen Scherz, der jedoch mit der langen Untersuchungshaft, die der Angeklagte bereits hinter sich hat, als verbüßt betrachtet werden kann.“
(Aus dem Publikum war verärgertes Gemurmel zu hören.
Rurik hustete ein paar Mal und fuhr fort: „Was aber bleibt – der Herr Graf sprach von der kaiserlichen Familie – ist zweifellos eine schwere Beleidigung unserer geliebten Kaiserin. Da ich sie ein wenig kenne, bin ich sicher, dass sie diesen Angeklagten trotz seines mutigen Schuldeingeständnisses vierteilen lassen würde. Dies ist ein Verbrechen, das wahrlich alle Grenzen des Anstands überschreitet“ … das spürbare Schweigen aller Anwesenden unter der Gerichtslinde zeugte von großer Anspannung.
Rurik schwieg eine kurze Weile, sprach dann aber weiter. „Aber selbst bei schweren Sündern wie diesen bitte ich den Richter, heute noch Gnade walten zu lassen. Ich bitte ihn, dem Angeklagten diese milde Strafe aufzuerlegen: Nachdem er sich ausgezogen hat, soll er sich in den Brennnesseln wälzen.“
Erschrocken zuckte der Mann zusammen, schwieg aber. Harald fragte nachdenklich, ohne sich an jemanden zu wenden: „Wachsen die Brennnesseln eigentlich zu dieser Zeit?“
„Ja, in der Tat, die gibt es“, ertönten viele Stimmen. Die Männer, die in unmittelbarer Nähe wohnten, kannten alle eine Stelle, an der man sich an den meist fast beinhohen Brennnesseln verletzen konnte – manche kannten sogar ein ganzes Feld in der Nähe. Harald musste kurz lächeln. Dann verkündete er das Urteil: „Im Namen Gottes und des Kaisers, wir wollen noch einmal Gnade walten lassen. Ich verurteile den angeklagten Barbier-Chirurgen Sipke Sipkesz dazu, sich dreimal hintereinander nackt in frischen Brennnesseln zu wälzen und zu einer Geldstrafe von hundert Solidi. Der erste Teil der Strafe muss sofort vollstreckt werden. Damit ist diese Thingsitzung beendet!“
Mit Hilfe einiger Freiwilliger war Sipke schnell entkleidet und kurz darauf wurde er durch die frischen Brennnesseln gerollt, dreimal hin und her. Seine Schreie verrieten unbeschreibliche Schmerzen. Doch anstatt nach der Bestrafung das Bewusstsein zu verlieren, schrie er: „Piss mich an! Piss mich voll! So viel du kannst, piss, piss!
Die Männer hatten während des Thing lange genug gestanden, um einen beträchtlichen Druck auf die Blase zu bekommen, auch das frische Herbstwetter hatte dazu beigetragen. Es gab bereits Männer, die nach einem Platz zum Pinkeln Ausschau hielten. Nachdem Graf Harald seine Erlaubnis gegeben hatte, kamen viele Männer schnell nach vorne, öffneten ihre Hosen und urinierten ausgiebig auf den Körper des Bestraften. Dieser drehte sich dann um, um die Flüssigkeit auch auf die schmerzhaftesten Körperstellen zu bekommen, zu denen vor allem Brust, Beine und Gesicht gehörten.
Die Leibwächter des Grafen trugen gerne ihren Teil dazu bei; auch sie ließen ihre Hosen herunter und richteten ihre Strahlen unwillkürlich besonders auf die Augen des Verurteilten. Nach einigem Zögern meldeten sich auch die Hundertmänner aus nah und fern und machten mit. Um ihre Würde zu wahren, enthielten sich Harald, Rurik und der Hofbeamte. Letzterer hielt diese Straferleichterung zudem für unangemessen und gewährte sie dem Verurteilten daher nicht. Deshalb urinierte er genüsslich gegen einen Baum.

Danach kehrten der Graf und seine Männer zu den Pferden zurück. Gorme Grote, ein wichtiger Gehilfe des Grafen, ging auf Rurik zu und klopfte ihm freundlich auf die Schulter. Harald bemerkte: „Rurik hat sich großartig verhalten; diese erste Tat wird sich in Friesland wie ein Lauffeuer verbreiten. Wir müssen natürlich aufpassen, dass das nicht zur Gewohnheit wird.“

Und damit ist diese Geschichte zu Ende.

Vorderseite des Buches "Das Thing"